Denkansätze, die mich begeistern

Wir alle sind einem Gleichnis zufolge Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen. Mit den Riesen sind dabei Vordenkende und Visionäre früherer Generationen gemeint, von deren Pionierleistungen wir heute profitieren, ohne das uns dies immer direkt bewusst ist. Im Sinne dieses Gleichnisses stelle ich hier Denker und ihre Ansätze vor, die mich sehr geprägt haben und immer wieder aufs Neue begeistern.

Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) – Durch Schopenhauer entdeckte ich die Welt der Philosophie. Der Ansatz, die großangelegten und unversöhnt sich gegenüberstehenden Weltentwürfe „Materialismus“ und „Idealismus“ erstmals zusammen zu denken, hat mich als junger Erwachsener so richtig in den Bann gezogen. Ich lag tage- und nächtelang im Bett und tat nichts anderes als Schopenhauers zweibändiges Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ zu verschlingen. Die Kraft und Ausdrucksfähigkeit seiner Sprache ist legendär – Schopenhauer darf als erster wirklich guter Schriftsteller unter den Philosophen gelten – und entfaltete eine geradezu magisch-anziehende Wirkung auf mich.

Visionär auch, lange vor Sigmund Freud, das Bild vom blinden Willen, der – die sehende aber wirkungslose Vernunft auf den Schultern – als eigentlicher Antreiber alles Lebendigen seine entsprechende Geltung verlangte.

Und für mich wahrlich augenöffnend seine Beschreibung eines Bergerlebnisses als Offenbarung (in: Rüdiger Safranski, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie): Die Selbstvergessenheit der versunkenen Betrachtung auf das weltliche Ameisengetümmel vom hohen Berg herab. Ganz großes Philosophen-Gänsehaut-Kino.

Leider war er entgegen der erhabenen Anmutung dieser Berg-Szene ansonsten eher misanthropisch und frauenfeindlich unterwegs. Er war nur gut zu seinen Hund „Butz“.


Autopoiesis

Im biologischen Konzept der Autopoiesis (altgriechisch αὐτός autos, deutsch: ‚selbst‘ und ποιεῖν poiein ‚schaffen, bauen‘) geht es grundsätzlich darum, das Lebendige als ein sich selbst aufrechterhaltenes System anzusehen und zu verstehen. Autopoiesis kann so nach Humberto Maturana auch als Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems verstanden werden, das sich im Sinne von echter Selbst-Organisation permanent selbst erzeugt.

Die Autopoiesis – und das ist der Knackpunkt dieses doch sehr komplexen Ansatzes – verabschiedet sich damit von einer Auffassung der Welt als einer Ansammlung von zu erkennenden beobachterunabhängigen Objekten. Stattdessen werden die durch das Nervensystem hergestellten sensomotorischen Beziehungen des beweglichen Organismus als ein ständiger Akt der Hervorbringung einer Welt im laufenden Prozess des Lebensvollzugs angesehen.

Ein interessanter Nebenaspekt ist, das Niklas Luhmann aus der Autopoiesis heraus später seine soziologische Systemtheorie entwickelte.


Charakterpanzer

Der Ausdruck stammt von Wilhelm Reich und bezieht sich auf den Zusammenhang von psychischer und somatischer Erstarrung. Den psychischen Anteil nannte er Charakterpanzer, womit eine Charakter-Struktur gemeint ist, die sich durch starre Konventionen und fehlende Flexibilität auszeichnet. Reich erklärt es so, dass wir uns von der Kindheit an und im Laufe des Lebens zunehmend anpassen, dabei unsere Gefühle unterdrücken und dadurch muskuläre und emotionale Verspannungen im Körper aufbauen. Somit hat nach Reich jeder von uns ein bestimmtes Verspannungsmuster im Körper, welche im späteren Leben zu vegetativen Störungen führen können.

Neben durchaus irritierenden Ansätzen bei Reich hat dieser bis heute als sogenannte „Psycho-Somatik“ seinen festen Platz in der diagnostischen Psychotherapie. Weiter entwickelt wurde er durch Christoph Thomann mit seinem Modell der „emotionalen Schichten“, welches seine Verwendung insbesondere im Rahmen von Konflikt-Beratung und Mediation findet.


Embodiment

Mit Embodiment (deutsch: ‚Verkörperung‘) ist ein Ansatz oder auch eine Einstellung gemeint, in der davon ausgegangen wird, das alles Bewusstsein und Denken immer einen Körper benötigt und Phänomene wie beispielsweise Kommunikation genau genommen erst durch die Betrachtung der Wechselwirkung zwischen Geist und Körper überhaupt erklärt und verstanden werden können.

In der Philosophie noch als grundsätzliches Leib-Seele-Problem veranschlagt, ist Embodiment heute ein wissenschaftlicher Ansatz, der den Körper in seiner Weisheit und in seiner evolutionären Entwicklung in jedwede Betrachtung mit einbezieht, um eine kognitive Engführung auf unser denkendes Gehirn, die wir so sehr gewohnt sind, von vornherein zu vermeiden. Meine Lieblingseinsicht diesbezüglich: „Du bist nicht dein Gehirn“.


Polyvagal-Theorie

Dieser Ansatz wurde von Stephen Porges entwickelt und beschreibt das komplexe Zusammenspiel  des menschlichen autonomen Nervensystems mit seinem bekannten sympathischen und parasympathischen Zweigen neu. Der Polyvagal-Theorie zufolge existieren nämlich mehr als zwei hierarchisch organisierte Subsysteme des autonomen Nervensystems, die unsere neurobiologischen Reaktionen auf Stimulation aus der Umgebung beeinflussen und gestalten.


Unser autonomes Nervensystem richtet sich demzufolge auf drei Ebenen aus:

  1. Soziales Engagement (Aktivierung)
  2. Mobilisierung (Kampf-Flucht-Verhalten)
  3. Immobilisierung (Erstarrung)

Wie das genau funktioniert, lässt sich mittels des in diesem Video beschriebenen „Poyvagal-Kreises“ wunderbar nachvollziehen:

Der Polyvagal-Kreis (Originalversion)

Noch ein Hinweis: Besondere Beachtung hat die Polyvagal-Theorie in der Traumaforschung erhalten, so zum Beispiel im Somatic-Experience-Ansatz von Peter Levine.


Systemisches Denken

Systemisches Denken beschreibt die Fähigkeit, die Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zwischen den Elementen eines Systems sowie dessen Eigendynamik zu erkennen und zu nutzen. Ganz praktisch bedeutet das:

  • Berücksichtigung von Beziehungen statt Fokussierung auf individuelle Eigenschaften von Personen.
  • Überprüfen von Handlungen auf ihre beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen.
  • Beurteilung von Situationen aus dem Möglichkeitsraum heraus und nicht aus der Ist-Perspektive.
  • Bemühen um alternative Sichtweisen aus verschiedenen Perspektiven statt Festhalten an objektiven Wahrheiten.
  • Beachten von netzförmigen Wechselbeziehungen mit mehrdimensionalen Folgen, statt nur auf lineare Ursache-Wirkung-Ketten zu schauen.
  • Bedeutung von Kommunikations– und Interaktionsmustern besser verstehen und systematisch in den Blick nehmen.

Hypnosystemik

Hypnosystemik ist ein Modell, das Erkenntnisse und Methoden der Hypnotherapie nach Milton H. Erickson in systemische Beratungsansätze integriert. Dabei gilt insbesondere Gunther Schmidt als maßgeblicher Pionier dieser systemisch-lösungsorientierten Beratungsansätze und als Begründer der hypnosystemischen Konzeption in Beratung, Coaching und Organisationsentwicklung.

Eine besondere Stärke des Ansatzes sehe ich in der grundsätzlichen Annahme, das jedes Problem und jedes Verhalten zunächst als kompetenter Lösungsversuch anzusehen ist, der (noch) nicht die erwünschte Wirkung zu entfalten vermag. Und darüberhinaus auch einen deutlich zu hohen Preis haben kann.

So wird die Lösung eher in der Aufmerksamkeitsfokussierung und gerade nicht in der Problem-Analyse gesucht, weil im unwillkürlichen und somit verborgenem Erfahrungsrepertoire von Menschen ein enormes Potenzial an hilfreichen Fähigkeiten und wertvollen Gesundheitskräften verfügbar ist.

Mit hypnosystemischen Interventions-Wissen können Menschen so lernen, diese wertvollen Kompetenzmuster wirksam zu reaktivieren und in zieldienlicher Weise mit den Situationen zu vernetzen, in denen man sie im jeweiligen Alltag braucht.


Zettelkasten

Zum Schluss noch etwas ganz Besonderes. Nach dem Geheimnis seiner beeindruckenden Produktivität befragt, antwortete Niklas Luhmann, der Begründer der soziologischen Systemtheorie: „Ich denke ja nicht alles allein, sondern das geschieht weitgehend im Zettelkasten“.

Dieser Zettelkasten ist sein legendäres Notiz- und Ablagesystem, das als Zentrum der Luhmannschen Theoriearbeit gelten darf und von ihm selbst als sein zweites Gedächtnis bezeichnet wurde. Dieses System gilt bis heute als eine der effektivsten Methoden, um wissenschaftliches Arbeiten zu strukturieren.

Das für die Kreativität des Kastens entscheidende Merkmal ist das sogenannte Verweisungsprinzip, bei dem Luhmann auf einem Zettel die Nummer eines oder mehrerer anderer Zettel notierte. Das ist dasselbe Prinzip, was heute als Hyperlink-Struktur bekannt ist und uns heute das so selbstverständlich scheinende „Surfen“ im Internet ermöglicht. Luhmann hat sich so gesehen mit dem Zettelkasten sein eigenes hölzernes Privat-Internet erschaffen.

Einblicke in das System der Zettel - Geheimnis um Niklas Luhmanns Zettelkasten

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